Es ist Winter.
Diese Zeit zwischen den Jahren, in der alles ein wenig stiller wird.
Die Straßen sind leerer, die Abende länger, und irgendwo, fast zufällig, läuft im Fernsehen ein alter Film.
Die Farben sind etwas verwaschen, die Kulissen schief, die Stimmen zu fröhlich für das, was wir heute Ernst nennen.
Ein Mädchen hebt ein Pferd hoch.
Nicht aus Trotz. Nicht aus Show.
Einfach so.
Als wäre das das Normalste der Welt.
Viele haben Pippi Langstrumpf lange nicht mehr gesehen.
Vielleicht seit ihrer eigenen Kindheit nicht mehr.
Damals, als Freiheit kein politischer Kampfbegriff war, sondern etwas, das man einfach tat.
Pippi lebte allein.
Nicht verlassen – allein.
In der Villa Kunterbunt, mit schiefen Fenstern, einem Affen auf der Schulter, einem Pferd auf der Veranda und einer Truhe voller Goldmünzen unter dem Arm.
Kein Konto.
Kein Antrag.
Keine Instanz, die prüfte, ob das angemessen war.
Sie war reich – nicht, weil sie viel hatte, sondern weil sie niemanden brauchte, um sie sein zu dürfen.
Wenn man heute zurückblickt, wirkt diese Geschichte fast wie ein Märchen aus einer anderen Welt.
Und vielleicht ist sie das auch.
Denn etwas ist in den letzten Jahren zerbrochen.
Nicht laut.
Nicht auf einen Schlag.
Sondern schleichend, still, beinahe unmerklich.
Schulhöfe wurden leer.
Geburtstage abgesagt.
Gesichter verdeckt. Kinder lernten, dass Nähe gefährlich sei und dass Gehorsam Sicherheit bedeute.
Erwachsene sagten: Es ist nur vorübergehend.
Aber Kinder wissen nicht, was vorübergehend heißt.
Für sie ist alles immer.
Die Generation, die damals lernte, still zu sein, ist dieselbe, die man heute wieder in die Pflicht ruft.
Erst hieß es: Bleib zu Hause.
Dann: Mach mit.
Jetzt: Diene.
Man spricht von Verantwortung.
Von Solidarität.
Von Notwendigkeit.
Man spricht selten von Zwang.
Und noch seltener von dem, was Zwang mit jungen Seelen macht.
Und genau hier, in dieser stillen, müden, ernsten Welt, tritt Pippi Langstrumpf wieder auf.
Nicht als Heldin.
Nicht als Vorbild im pädagogischen Sinne.
Sondern als Störung.
Pippi war ungehorsam.
Nicht, weil sie rebellieren wollte, sondern weil sie nie verstanden hat, warum man sich Dinge verbieten lassen sollte, die keinem schaden.
Sie lachte, wo Ernst verlangt wurde.
Sie ging mit Stiefeln ins Bett und legte ihre Füße aufs Kopfkissen.
Nicht aus Provokation, sondern weil niemand ihr je überzeugend erklären konnte, warum man es nicht tun sollte.
Pippi machte die Welt nicht kaputt, indem sie sie umdrehte.
Sie zeigte nur, dass sie auch anders herum funktionieren kann.
Autoritäten machten ihr keine Angst.
Polizisten waren für sie Menschen.
Lehrer Gesprächspartner.
Regeln Vorschläge.
Und sie hatte einen Mund, den sie nicht hielt.
Pippi war herrlich politisch unkorrekt.
Sie sprach, wie sie dachte.
Ungefiltert. Ungebändigt.
Aus einer Zeit, in der Worte noch keine Waffen waren und Gedanken keine Vergehen.
Heute würde man sie korrigieren.
Belehren.
Sensibilisieren.
Umerziehen.
Vielleicht würde man sagen, sie müsse geschützt werden – vor sich selbst.
Doch Pippi ließ sich nie erklären, dass Freiheit gefährlich sei.
Oder dass Stärke gezähmt werden müsse.
Oder dass man den Mund zu halten habe, wenn Erwachsene beschließen, was richtig ist.
Sie hatte Gold.
Und heute, man darf sich das ruhig vorstellen, hätte sie wohl auch eine Bitcoin-Wallet.
Nicht aus Ideologie.
Nicht aus Rebellion.
Sondern aus demselben Grund, aus dem sie ihre Goldmünzen hatte:
Weil sie niemanden fragen wollte.
Eigentum ohne Erlaubnis.
Reichtum ohne Kontrolle.
Freiheit ohne Antrag.
Die Villa Kunterbunt war kein Chaos.
Sie war Ordnung ohne Zwang.
Eine Welt, die funktionierte, weil sie freiwillig war.
Vielleicht ist genau das der Gedanke, den wir verloren haben.
Dass Freiheit nicht entsteht, wenn man Menschen immer enger führt.
Dass Verantwortung nicht aus Befehlen wächst.
Und dass man eine verletzte Generation nicht heilt, indem man ihr neue Pflichten auferlegt.
Vielleicht braucht diese Generation – diese durch Zwang, Angst und moralischen Druck geformte Gen Z – keine neuen Ideologien.
Keine neuen Helden.
Keine neuen Programme.
Vielleicht braucht sie eine Erinnerung.
An ein Mädchen, das Nein sagte, ohne laut zu werden.
Das stark war, ohne zu herrschen.
Das reich war, ohne zu nehmen.
Und frei, ohne jemanden zu unterdrücken.
Pippi Langstrumpf ist kein Kinderbuch mehr.
Sie ist ein Gegenzauber.
Für eine Generation, der man zu früh den Ernst aufgezwungen hat.
Und für Erwachsene, die vergessen haben, dass man auch mit Stiefeln ins Bett gehen darf.
Vielleicht ist Pippi nicht politisch korrekt.
Vielleicht passt sie nicht mehr in diese Zeit.
Oder vielleicht passt sie gerade deshalb wieder perfekt.
Vielleicht beginnt das neue Jahr nicht mit Vorsätzen.
Nicht mit Programmen.
Nicht mit neuen Regeln.
Sondern mit einer einfachen, beinahe kindlichen Frage:
Was wäre, wenn wir uns einfach wieder trauen würden?


